Donnerstag, Juni 22, 2006
Das Gnadenbild von Mehrerau - Tatsachenbericht einer auffallenden Heilung
Es war am Samstag, den 5. Juni 1937. Ich saß für kurze Zeit im Krankenstübchen einer stillen Dulderin namens Emilie Gehrer von Höchst. Die Bedauernswerte, geboren am 24. Mai 1907, wurde schon jahrelang von einem hartnäckigen Blasen- und Nieerenleiden heimgesucht und mußte das Bett hüten. Ich konnte mich an jenem heißen Nachmittag an der Geduld und Gottergebenheit der Vereinsamten - Vater und Stiefmutter waren beim Heuen, die Geschwister auswärts bei der Arbeit - nur erbauen. Wie freudig nahm sie meine Anregung entgegen, ihren Schutzengel zur Begrüßung des Allerheiligsten an ihrer statt vor den Tabernakel zu schicken oder den göttlichen Heiland durch die geistige Kommunion zu sich herbeizurufen. Während der Woche erhielt sie öfter im Hause die hl. Kommunion.
An der Stubenwand ob dem Krankenbette konnte ich Erinnerungen an Lourdes wahrnehmen. Dorthin durfte die Kranke dank der Frürsorge von Schweizer Wohltätern im Mai 1935 mit dem Schweizerischen Krankenpilgerzug reisen. Die Schwerkranke kehrte von Lourdes bitter leidend zurück, ließ sich aber von niemand im Vertrauen zu Maria erschüttern.
Vier Wochen später war ich wieder zur seelsorglichen Aushilfe in Höchst. Der Zustand der Kranken hatte sich bedeutend verschlimmert. Emilie erkannte mich nicht mehr, ihre Augen versagten den Dienst. Das fortgeschrittene Nierenleiden (Nephritis) hatte die Sehkraft der Augen zerstört. Alle befürchteten das baldige Hinscheiden der schmerzbeladenen Sodalin. Vater und Geschwister betreuten sie mit großer Liebe und Fürsorge. Mit einer abermaligen Aufmunterung zum öfteren Erwecken der geistigen Kommunion und zur vollen Ergebung in Gottes heiligen Willen verabschiedete ich mich von der ehemaligen Klosterkandidaten (Baldegg), die mir als sichere Todeskandidatin vorgekommen ist. Als ich ihr sanft die schmale Leidenshand drückte, sprach ich zu ihr: "Gute Emilie, wenn Du droben im Himmel bist, dann lass' mir die selige Gemma Galgani schön grüßen". Bei diesen Worten nickte sie mit dem Kopfe. Über ihre verhärmten Züge glitt ein leichtes Lächeln.
Juli und August gingen vorüber, Emilie litt weiter ihr bitteres Leben. Mit anderen wunderte ich mich sehr darüber. Der treubesorgte Pfarrer Martin Tschavoll hatte mir am 3. Juli erklärt: "P. Leo, wenn Sie die Jungfrau Emilie noch lebend antreffen wollen, dann müssen Sie noch heute zu ihr gehen, sie wird die nächste Woche wohl kaum erleben". -
Das Lebensflämmchen der stillen Dulderin glimmte weiter. Die Blindheit blieb bestehen. Indessen schaute die Sterbenskranke in ihrem Geiste ein Bild, das fest in ihrem Gedächtnis haftete. Mehr visionär als im Traume sah sie wiederholt die Madonna von Lourdes, welche sie auf ein Gnadenbild aufmerksam machte. Hier würde sie Erlösung von ihrem Leiden erhalten. - Wo hatte Emilie dieses Bild, von dem die Gnadenmutter von Lourdes sprach, doch nur gesehen? Es erschien bekannt. Nach längerem Nachdenken erinnerte sich die Kranke an die Jahre ihres Küchendienstes im St. Bernhardskolleg zu Mehrerau. In der Klosterkirche war gleich hinten beim Hauptportal links, ein gotischer Altar mit einem altehrwürdigen Gnadenbild der Gottesmutter mit dem Jesuskind. Davor hatte Frl. Emilie 1929 - 1930 oft gebetet. Zunächst wagte sie nicht, von der Weisung der Gottesmutter jemandem etwas mitzuteilen. Die erste leise Andeutung machte sie ihrem Bruder P. Martin, der sie Mitte August zum zweitenmal in diesem Sommer besuchte, weil der behandende Arzt schon täglich den Tod befürchtete. Der eigene Bruder vertröstete sie auf Mithilfe, sobald er genügend mit Gott und guten Freunden über die schwierige Angelegenheit beraten habe. Weil Pfarrer Tschavoll trotz wiederholten Drängens der Leidenden ihrer visionären Weisung keinen Glauben schenkte, zog Emilie Kaplan Wilhelm Ritter ins Vertrauen. Rasch nacheinander erhielt P. Martin in gleicher Sache einen Brief vom Herrn Kaplan und seiner Kousine. Seine eindringliche Bitte an den Hauptseelsorger von Höchst, mit Emilie nach Mehrerau zu fahren, blieb erfolglos. Am 8. September rief Kaplan Ritter P. Martin - damals Kooperator in Strengen am Arlberg - telephonisch an. Dieser eilte mit dem nächsten Zug nach Höchst, fest entschlossen, in einem Sanitätswagen mit Emilie nach Mehrerau zu pilgern. Bis über die Mitternacht des oben genannten Tages hinaus prüfte der Bruder sämtliche Aussagen seiner Schwester, bis er sich innerlich überzeugte, daß hier kein Selbstbetrug vorliege und den energischen Bitten der Schwerkranken und Blinden so rasch wie möglich entsprochen werden müsse.
Am 9. September setzte sich P. Martin mit P. Laurenz Göppel, Prior von Mehrerau, telephonisch in Verbindung und erwirkte sofort die Erlaubnis von Abt Kassian Haid, die Schwester nach Mehrerau bringen zu dürfen. Der Bruder bestellte von Bregenz den besten Sanitätswagen auf 2 Uhr Nachmittag. So wurde die Kranke, die immer wieder sagte, "in Meherau werde ich erlöst", begleitet vom eigenen Bruder und der Krankenschwester Agathangela, nach dem Orte ihrer Sehnsucht verbracht. P. Martin übernahm allein alle Verantwortung, nachdem der Arzt und die Seelsorger sie entschieden abgelehnt hatten.
Im Kloster hatte P. Prior die meisten Patres von der Ankunft des Mitbruders P. Martin verständigt. Zwei Sanitätsmänner der Stadt trugen die Erblindete auf der Krankenbahre des Sanka vor das Gnadenbild. Emilie lag zuerst regungslos da, ihre abgemagerten Hände faltete sie zum Gebete. Nach Schluß der gesungenen Vesper betete P. Martin in Erinnerung an die Gebetsweise des hl. Bernhard das "Salve Regina". Inzwischen versammelten sich einige Patres und Brüder hinter ihm. Alle empfanden großes Mitleid mit der Schwerkranken. Emilie streckte indessen hilfesuchend ihre Hände zum Gnadenbilde empor. Ein starkes Zittern ging durch ihren schwachen Körper. P. Bernhard gab auf Bitten P. Martins der Kranken mit dem Allerheiligsten den Segen. Wenige Augenblicke nach dem Segen ging ein heftiges Zucken durch ihren Körper, ein lauter Freudenseufzer entrang sich ihrem Munde. Sie wandte sich mit kristallschönen Augen an ihren Bruder, der links an ihrer Seite kniete und sagte: "O, ich sehe! O, das Allerheiligste, und dort oben das Gnadenbild der Mutter Gottes!" Erregt unterbrach man die Gebete. Tieferschüttert neigte sich der Bruder zu seiner Schwester nieder und fragte sie: "Ja siehst du das wirklich?" "Ja, freilich sehe ich es!" "Siehst du auch mich?" - "Ja, du bist doch der P. Martin". - "Was ist da drüben?" - "Das ist die Krankenschwester".
Alle Umstehenden erfaßte freudige Erregung. Nach dem lauten Beten der Lauretanischen Litanei erhielt die Geheilte mit dem Allerheiligsten nochmals den Segen. Emilie lag ruhig und friedlich auf der Krankentrage. Ihr ganz verwandeltes, frisch aussehendes Antlitz leuchtete in froher Dankbarkeit. Sie fühlte keine Schmerzen mehr, was umso mehr auffallen mußte, weil sie am gleichen Tage vier Morphiumspritzen erhalten hatte, um den Transport überhaupt bestehen zu können. Nach der Verladung in das Sanitätsauto nahm Emilie gegen Durstemfinden ein Glas frische Limonade zu sich. Abt und Patres zogen sich tiefergriffen auf ihre Zellen zurück, nachdem der Abt dem wegfahrenden Auto seine herzlichsten Segenswünsche nachgerufen hatte.
Samstag, den 11. September 1937, kam P. Martin auf seiner Rückkehr von Höchst nach Strengen schnell nach Mehrerau und brachte die freudige Kunde, seine Schwester sehe gut aus, fühle keine Schmerzen mehr, die inneren Organe, die solange ihren Dienst teilweise oder ganz versagt hatten, täten wieder ihre Pflicht und Schuldigkeit, mit ihren klaren Augen lese sie die kleinste Druckschrift.
Es ist begreiflich, daß der merkwürdige, aber durchaus glaubwürdige Vorgang am 9. September 1937 vor dem Mehrerauer Gnadenbilde zunächst in Höchst, in Bregenz, dann bald auch in der Umgebung tiefen Eindruck machte. Vertrauen und Verehrung zum dreihundert Jahre alten Gnadenbild sind seitdem erheblich gewachsen.
P. Leo Schlegel, S. O. Cist., Mehrerau
Anmerkung: Emilie Gehrer wohnte später bei ihrer Schwester Frau Ernst-Gehrer, Mehrerau
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