Als Maria Kalb geheilt von Locherboden nach Mötz zurückkam, wartete dort schon eine große Menge Leute, denn es hatte sich herumgesprochen, daß man in der Frühe eine Schwerkranke, der die Gottesmutter erschienen sei, nach Locherboden gebracht hatte. Nachmittags ging die Geheilte mit ihren Freundinnen zu Fuß nach Stams, während der Bruder Johann mit dem Wagen nachkam. Als sie auf dem Weg nach Stams nach Locherboden hinaufschauten, sahen sie dort schon viele Menschen versammelt - der Beginn der Wallfahrt.
Zunächst wurde ein Weg von Mötz durch den Wald nach Locherboden angelegt. Um ihn bis zur Grotte führen zu können, waren große Sprengungen nötig. Dreizehn gemauerte Pfeiler mit einem Geländer sicherten ihn. Da man schon einmal beim Sprengen war, wurde auch die Höhle erweitert. Es wurde aber mehr Felsen weggesprengt, als beabsichtigt war, so daß der vordere Teil der Höhle, wo bisher das Marienbild gehangen und die Heilung stattgefunden hatte, einstürzte. Daher wurde das Bild weiter rückwärts im Knappenstollen angebracht. Dann wurde noch vor dem Eingang der Höhle ein hölzerner Vorbau errichtet, der den Wallfahrern Schutz vor Wind und Wetter bieten sollte. Im folgenden Jahr wurden auf der Höhe des Locherbodens drei Kreuze aufgestellt, die weithin sichtbar waren. Es wurde bei den Pilgern Brauch, daß sie, nachdem sie vor dem Bild der Gottesmutter gebetet hatten, noch zum Kreuz des Herrn hiaufstiegen. 1876 wurden die Kreuzwegstationen, die man den Weg nach Mötz nach Locherboden entlang aufgestellt hatte, geweiht. Dieser Kreuzweg ist seither des öfteren erneuert worden. 1881 wurde die steinerne Kapelle vor der Grotte erbaut, die heute noch steht. Aber schon bald dachte man daran, eine Kirche zu bauen. Der hochw. Herr Johann Schlatter, der von 1879 bis 1905 Pfarrer von Mötz war und sich die größten Verdienste um die Entwicklung von Locherboden erworben hat, wollte die Grotte so erweitern, daß man am Platz selber, wo die Heilung stattgefunden hatte, die Kirche hätte bauen können. Aber dieser Plan erwies sich wegen der großen Sprengungen, die man hätte vornehmen müssen, als undurchführbar. So entschloß man sich, die Kirche auf dem Hügel über der Grotte zu bauen. Die Pläne zeichnete der Baumeister Heinrich Hörmann, der dann den Bau auch ausführte. 1896 wurde der Grundstein gelegt, 1901 war die Kirche bis auf die Inneneinrichtung fertig. Am 30. Juni dieses Jahres wurde das Mariahilfbild in feierlicher Prozession von der Pfarrkirche in Mötz aus in die neue Kirche auf Locherboden übertragen. Von weit und breit waren die Menschen zu dieser großen Feier zusammengekommen. Eine Woche darauf, am 6. Juli, wurde die Kirche durch den Bischof von Brixen Simon Aichner konsekriert.
Damit war die Entwicklung von Locherboden zu einem gewissen Abschluß gekommen. Die Gottesmutter hatte zwar nicht wie in Lourdes den Bau einer Kirche verlangt. Wenn aber auf der Höhe über der Grotte zunächst drei Kreuze aufgestellt und dann die Kirche gebaut wurde, geschah das aus einem gesunden Instinkt des christlichen Volkes heraus - die Kirche wurde zum größten Teil aus den freiwilligen Spenden kleiner Leute gebaut - und sicher nicht ohne die geheimnisvolle Leitung der Gottesmutter, die auch hier ihre Kinder zu ihrem göttlichen Sohn, zum Kreuz und zum Altar, geführt hat.
Die Kirche
Wenn wir die Kirche betreten, fällt unser Blick sofort auf das Mariahilfbild über dem Hochaltar. Es ist zwar nicht mehr dasselbe Bild, das der Bergknappe seinerzeit am Eingang des Stollens angebracht hat, wohl aber das Bild, vor dem Maria Kalb gebetet hat und geheilt worden ist. Der Altaraufbau stammt von dem Bildschnitzer Josef Bachlechner aus Solbad Hall. Links befindet sich die Statue des hl. Bernhard, des großen Marienverehrers, rechts die Statue des hl. Kassian, des Gründers und Patrons der Diözese Brixen, zu der Locherboden früher gehört hat. In den Nischen der beiden Türmchen steht links die Statue des heiligen Apostels Johannes, rechts die des heilige Josef. Auf den Spruchbändern stehen die Texte "Das ist der Ort, wo du mich suchen mußt" und "Wenn einst das Auge bricht, Mutter, verlaß mich nicht".
Die Glasfenster stellen dar: in der Mitte die Krönung Mariens, links den heiligen Florian und den heiligen Wendelin, die Vermählung Mariä, rechts den heiligen Aloisius und die heilige Barbara, die Patronin der Bergknappen, und Mariä Heimsuchung.
Ausgemalt wurde die Kirche in den Jahren 1914 bis 1916 von Toni Kirchmayr aus Innsbruck. Als Hauptthema wählte er die vier Hauptfeste des Kirchenjahres: über dem Presbyterium Ostern mit der Gestalt des auferstandenen und verklärten Christus; zwei Engel tragen Krone und Zepter, zwei weitere das Tuch mit dem blutüberströmten Antlitz des Herrn und die Dornenkrone.
Das erste Bild im Kirchenschiff stellt die Geburt Christi dar, links bringen die Hirten ihre Gaben, rechts huldigen die Drei Könige. Auf den kleinen Feldern ist jeweils ein Prophet zu sehen, der über das betreffende Geheimnis geweissagt hat, hier ist es der Prophet Isaias. Das zweite Bild zeigt eine ländliche Fronleichnamsprozession, als Prophet erscheint Ezechiel. Das dritte Bild im Kirchenschiff, schon mehr über der Empore, ist eine Darstellung des Pfingsfestes. Als Prophet ist Jeremias gewählt. Zwischen den untersten Fenstern sehen wir die vier Evangelisten mit ihren Symbolen. Die Köpfe an der Brüstung der Orgelempore sollen die zwölf Apostel darstellen, rechts und links von ihnen sind die Porträts des Erbauers der Kirche und des Künstlers, der die Gemälde schuf.
Auf den Seitenwänden beim Eingang erblicken wir Darstellungen aus der Geschichte des Wallfahrtsortes, gemalt von Toni Kirchmayr; rechts: Engel wenden den Stein, um den verschütteten Bergknappen zu retten, der nachher, zum Bilde emporblickend, ein Dankgebet spricht; links: die Heilung der Maria Kalb, unten das Gefährt und Blick nach Silz, oben der Bruder Johann, der seine Schwester über den Felsensteig trägt, und die ganze Gurppe, wie sie vor dem Bild der Gottesmutter betet.
Die Kapelle
Nachdem das Mariahilfbild in die neue Kirche übertragen war, verfiel die untere Kapelle wieder und wurde fast vergessen. Den Bemühungen des P. Meinrad Alois Bader O. Cist. aus dem Stift Stams ist es zu danken, daß ein neuer Zugang zur Grotte geschaffen und die alte steinerne Kapelle gründlich erneuert werden konnte. Statt des Mariahilfbildes wurde eine Darstellung der Schmerzensmutter aufgestellt, ausgeführt von dem bereits erwähnten Josef Bachlechner. Die Schmerzensmutter wurde deswegen gewählt, weil seit alters her neben dem Mariahilfbild ein Bild der schmerzhaften Mutter hing und weil Maria selbst die kranke Maria Kalb aufgefordert hatte, den Rosenkranz zu ihren sieben Schmerzen zu beten.
Rückblickend ist es nicht schwer, eine große Ähnlichkeit zwischen Locherboden und den übrigen großen Muttergotteserscheinungen der letzten hundert Jahre zu erkennen. Auch Maria Kalb wurde aufgefordert, den Rosenkranz zu beten, wie Bernadette in Lourdes und die Kinder von Fatima. Maria hat zwar auf Locherboden nicht ausdrücklich zur Buße gemahnt. Aber von Anfang an hing neben dem Mariahilfbild ein Bild der Schmerzensmutter, und heute steht in der unteren Kapelle das Bild der schmerzhaften Mutter. Wer könnte aber die Mutter, die ihren toten Sohn auf dem Schoß trägt, betrachten, ohne an die eigenen Sünden zu denken, die das Leid des Sohnes und der Mutter mitverschuldet haben, und sich so gedrängt fühlen, Buße zu tun und sein Leid zu ändern? "Die Menschen sollen aufhören, Gott zu beleidigen, der schon so viel beleidigt worden ist", sagte die Gottesmuttter zu den Kindern in Fatima. Genau das gleiche sagt uns das Bild der Schmerzensmutter. Noch auf eine Ähnlichkeit sei hingewiesen, die bis heute vielleicht viel zuwenig beachtet wurde. Bei der ersten geheimnisvollen Erscheinung reichte jemand der Maria Kalb einen Brief. Maria Kalb erzählte nachher: "Ich machte den Brief auf, und da sah ich das Bild Mariens mit offenem, freundlichem Blick, aus deren Augen Tränen über die Wangen herabperlten" - wer dächte da nicht an die weinende Madonna von Syrakus? Nur von Strafgerichten hat die Gottesmutter im Zusammenhang mit Locherboden nicht gesprochen, offenbar war der Augenblick dazu nach dem Plane Gottes noch nicht gekommen. Nachdem wir aber die Botschaft von Fatima gehört und die Strafgerichte Gottes zum Teil am eigenen Leib erfahren mußten, fällt es uns nicht schwer, beim Anblick der Schmerzensmutter auch an die Strafgerichte Gottes zu denken, die uns drohen, wenn wir uns nicht ernst und von Herzen zu Gott bekehren.
Pater Josef Fiedler S.J.
Imprimatur Nr. 317. Bischöfliches Ordinariat Innsbruck, 1. März 1967. Dr. J. Hammerl, Generalvikar. - Imprimi potest. Vindobonae, die 15 februarii 1967. Jo. Chr. Pilz S. J., Praep. Prov. Austriae. - Im Eigenverlag des katholischen Pfarramtes Mötz.
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